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Bringing the Uncanny Home

Fiktionale Geschichten in der realen Welt

Das Thema Unheimlichkeit kommt in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert bis zu Gegenwart häufig vor. Das Unheimliche ist nicht das Gleiche wie bloß beängstigend oder gruselig. Es soll auf irgendetwas Sicheres und Bekanntes anspielen, das durch eine gewisse ästhetische Transformation zum Schreckhaften wird.

Kunst ist immer in irgendeiner Weise von der Wirklichkeit inspiriert. Ich dachte mir, wie wäre es, wenn ich die Fiktion und die Wirklichkeit zusammenbringe? Die bekannte Wirklichkeit unheimlich mache? Buchstäblich benennt das Wort „Unheimlich“ einen Gegensatz zum „Heim“. Deswegen befasse ich mich mit einer Reihe von Buchillustrationen, die imaginäre Narrative an wirklichen Orten darstellen, und diese auf solche Weise unheimlich machen.

Wie wird ein Ort unheimlich? Literatur hat die Kraft, die Welt zu verwandeln. Ein Ort in einem literarischen Text ist keine wirkliche Stadt, Straße oder Allee, wo Menschen wohnen, sondern ein ungreifbares Fantasieprodukt. Es gibt Geschichten, in denen Gespenster im Bio-Laden einkaufen. Es gibt Geschichten darüber, wie der Körper durch die Stadtteile definiert wird, und die Stadt durch Körperteile – wie sie Eins werden. Manchmal wird ein Türgriff lebendig, um einen zerstreuten Studenten zu verspotten. Manche Geschichten erzählen davon, wie unheimlich es sich anfühlt, zurück nach Hause zu gehen, wenn man anders als seine Nachbarn aussieht. Und was ist mit den lebhaften Erinnerungen an die Orte, wo man nie zuvor war? Ist ein Zuhause, das durch einen Luftangriff völlig zerstört wurde, noch ein Zuhause? In der Literatur gibt es zahllose Weisen, auf denen ein wirklicher Ort unheimlich werden kann. Wegen meiner Faszination mit diesem Phänomen verfolgte ich dieses Projekt. Ich wollte die fiktionale Geschichte durch ein visuelles Medium leibhaftiger machen und erreichte dieses Ziel durch Darstellung von wirklichen Orten in meinen Illustrationen.

Ich glaube, gute Kunst erfordert tiefgreifendes, persönliches Engagement mit ihrem Gegenstand. In unserem Zeitalter ist es besonders wichtig, Kunst aus eigenen wirklichen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen zu erschaffen. Bilder werden drastisch abgewertet, weil man unvorstellbare Mengen von ihnen mit einem Click erhalten kann. Ein Algorithmus kann glaubwürdig das Malen imitieren. Aber Kunst soll ein Austausch zwischen Menschen sein, und es macht keinen Unterschied, wie leistungsfähig die künstlerischen Mittel sind, wenn es nichts zu sagen gibt.

Ich freue mich darüber, Sie auf diese literarische Reise durch Deutschland und benachbarte Länder einladen zu können. Wenn Sie das nächste Mal einen neuen Ort besuchen, egal ob eine neue Stadt im Ausland oder die früher unbekannte Straße in ihrer Nachbarschaft, möchte ich Sie dazu ermutigen, diese Frage zu stellen: welche fiktionalen Ereignisse fanden hier statt? Und vielleicht können Sie auch Ihre eigene Geschichte über den Ort schöpfen.

 

Dieses Projekt wurde durch ein Fulbright-Stipendium in 2023-2024 ermöglicht und in Jena, an der Friedrich-Schiller-Universität durchgeführt. 

Der Blonde Eckbert

Ludwig Tieck

Schloss Wernigerode, Harz

"Waldeinsamkeit
Mich wieder freut,
Mir geschieht kein Leid,
Hier wohnt kein Neid,
Von neuem mich freut
Waldeinsamkeit."

 

- Ludwig Tieck,
"Der Blonde Eckbert" (1797). 

Das Höfliche Gespenst

Sophie Albrecht

Oleška,

in der Nähe von Prag

"Auch hier in der fast zerstörten Marienkapelle hatte sie Augenblicke, die sie nicht alle dem Gebet weihte – andere Betrachtung führte ihre Fantasie vor ihre Seele; Gedanken der Vergangenheit wurden hier lebhafter – und das Bewußtseyn der Ruhe um die modernden Gebeine, die hier schliefen – und das Gefühl, auch die weinen längst nicht mehr, deren Thränen um diese Toden flossen – diese Gedanken führten auch ihr den Tag, den gewissen endlichen Tag, wo auch sie keinen Verstorbenen mehr betrauern würde, vor den Blick ihres Geistes."

- Sophie Albrecht, Das Höfliche Gespenst (1797). 

Beschreibung eines Kampfes

Franz Kafka

Prag, Karlsbrücke

"Daher breitete ich mit Freude meine Arme aus, um den Mond ganz zu genießen.
– Da fiel mir der Vers ein: Ich sprang durch die Gassen wie ein betrunkener Läufer stampfend durch Luft und es wurde mir leicht, als ich Schwimmbewegungen mit den lässigen Armen machend ohne Schmerz und Mühe vorwärtskam. Mein Kopf lag gut in kühler Luft und die Liebe des weißgekleideten Mädchens brachte mich in trauriges Entzücken, denn es schien mir als schwimme ich von der Verliebten und auch von den wolkenhaften Bergen ihrer Gegend weg."

 

- Franz Kafka, "Beschreibung eines Kampfes" (1912). 

Böser Wolf

Nele Neuhaus

Königstein am Taunus

"Die Tür ging auf, und sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie den Wolf sah. Doch dann musste sie lachen. Das war ja gar kein echter Wolf, das war Papa, der sich verkleidet hatte! Wie schön es war, dass nur sie dieses Geheimnis mit Papa hatte. Nur zu dumm, dass sie sich hinterher nie daran erinnern konnte. Das war wirklich traurig."

- Nele Neuhaus, Böser Wolf (2014). 

Drei Straßen

Yoko Tawada

Kollwitzstrasse, Berlin

"Man sagt, Geister werden nicht in Spiegeln reflektiert. Und wie ist es bei jemandem, der mit dem Geist einkaufen geht?"

- Yoko Tawada, "Drei Straßen" (2022). 

Der Goldne Topf

E. T. A. Hoffmann

Dresden

"Da stand er und schaute den großen schönen bronzenen Türklopfer an; aber als er nun auf den letzten die Luft mit mächtigem Klange durchbebenden Schlag der Turmuhr an der Kreuzkirche den Türklopfer ergreifen wollte, da verzog sich das metallene Gesicht im ekelhaften Spiel blauglühender Lichtblicke zum grinsenden Lächeln. Ach! es war ja das Äpfelweib vom Schwarzen Tor!"

- E. T. A. Hoffmann, Der Goldne Topf (1819). 

Adas Raum

Sharon Dodua Otoo

Berlin

"Bilder sind nämlich der Unterschied zwischen den Ungeborenen und den Verstorbenen. Auch wenn Verstorbene selber nicht mehr auf Fotos, in Zeichnungen oder durch Erzählungen wahrnehmbar sind, tröstet es sie, zu wissen, dass das Leben der Liebsten weitergeht. Tote haben Bilder. Die, die noch nie gelebt haben, warten noch auf sie."

 

- Sharon Dodua Otoo, Adas Raum (2021). 

Männer zu Verkaufen

Friedrich Radszuweit

Berlin

"Wir vermögen immer nur das zu fassen, was uns selbst bedrückt und quält, und achten nicht auf die Seelenart der „Anderen“, die alles mit sich allein austragen müssen."

 

-Friedrich Radszuweit, Männer zu Verkaufen (1931). 

"When discussing urban "topographic symbolism," Roland Barthes writes that buildings located in a city's center "embody" a community's core values: "Spirituality (churches), power (offices), money (banks), goods (department stores), language (agoras, cafes, promenades) [...]. To go to the center of town means to encounter social 'truth'; to take part in the incredible richness of 'reality' " (47)."

 

- Prickett, David James (2005): Defining Identity via Homosexual Spaces: Locating the Male Homosexual

in Weimar Berlin

Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich
wie im Reich der Gedanken

Jakob Hein

Unteres Odertal

"Sie konnte einfach nicht anders. Sie hatte diese Reise schon so oft in ihrem Kopf gemacht und geplant, die Details verfeinert, die Route perfektioniert, dass Paris einfach aus ihr herausdrängte. Der Umstand, dass diese Reise nie stattgefunden hatte und sich daran wohl auch in den nächsten knapp vierzig Jahren nichts ändern würde, machte die Sache nicht besser." - Jakob Hein, Der Hypnotiseur (2022). 

Zaubererbruder - Der Krabat-Liederzyklus

ASP

Schwarzkollm

"Die Mühle liegt im Tal geduckt

Und lauert auf die Beute

So manchen hat sie schon verschluckt

Ein Riss im Hier und Heute."

 

- ASP, "Die Teufelsmühle" (2008). 

Seegeister

Ilse Aichinger

Podersdorf am See

"Den Sommer über beachtet man sie wenig oder hält sie für seinesgleichen, und wer den See mit dem Sommer verläßt, wird sie nie erkennen. Erst gegen den Herbst zu beginnen sie, sich deutlicher abzuheben. Wer später kommt oder länger bleibt, wer zuletzt selbst nicht mehr weiß, ob er noch zu den Gästen oder schon zu den Geistern gehört, wird sie unterscheiden."

- Ilse Aichinger, "Seegeister" (1953). 

Rückkehr nach Frankfurt

Marie Luise Kaschnitz

Frankfurt am Main

"Sage, wie es begann.

Wie sah sie dich an

Aus ihren erloschenen Augen

Die Stadt?

 

Und was sagte der Mund,

Dieser Zerrissene Mund,

Erwachend, was sprach der Mund?"

 

- Marie Luise Kaschnitz, "Rückkehr nach Frankfurt" (1947). 

Dschinns

Fatma Aydemir

Karlsruhe

"Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, will es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie? [..] Ist es vielleicht schlicht einfacher, sich um Dschinns zu sorgen als um Nazis? Denn beides sind doch Kreaturen, die unter uns sind und so lange unbemerkt bleiben, bis die Katastrophe passiert und ihre Existenz nicht mehr zu leugnen ist, wie damals, als Sevdas Haus brannte."

 

- Fatma Aydemir, Dschinns (2022). 

Die Blumenbombe

Mahesh Motiramani

München

"Die Straßen und Häuser der Stadt waren in wenigen Stunden mit Blumen übersät. Knietief sanken die Bewohner in ein Meer von Lilien, Narzissen, Gladiolen, Nelken, Dahlien, Margeriten und dornenlosen Rosen in allen Farben. In manchen engen Straßen stand ihnen die Blumenpracht bis zum Halse."

 

"An einem Donnerstag im August, gegen 18 Uhr, ertönte eine Explosion im Münchner Süden, und das hässlichste Hochhaus der Stadt stieg auf wie eine Rakete und entfernte sich mit einem Feuerschweif von der Erde."

 

"Verärgert über die Störung, erhob sich Frieder und ging zur Tür. Kaum hatte er sie geöffnet, sprangen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Da stand ein Hotel! Ein Hotel Astoria mit grellweißer Fassade."

-Mahesh Motiramani, Die Blumenbombe (2004). 

Der Heidemann

Annette von Droste-Hülshoff

Havixbeck (Münsterland)

"Ihr Kinder, legt euch nicht ins Gras, –

Seht, wo noch grad' die Biene saß,

Wie weißer Rauch die Glocken füllt.

Scheu aus dem Busche glotzt der Has,

Der Heidemann schwillt!"

 

 

- Annette von Droste-Hülshoff, "Der Heidemann" (1841/1842). 

The Bremen Space Musicians landen als Außerirdische auf dem Planet Bremen

Nora Becker Alvarez

Bremen

"Verstorbene Menschen werden wiedergeboren, während Schmetterlinge ihre Verwandlung vollenden... Weltberühmte Märchen verweilen im Gedächtnis, und gleichzeitig werden neue geschrieben..."

"Niemand weiß, wo die vier Bremer Stadtmusikanten so lange nach ihrem glücklichen Leben im Räuberhaus waren und was sie trieben, bis sie eines Tages die unsichtbaren Grenzen des Verborgenen überquerten und über ungewöhnliche Wege an ihre vertrauten Schauplätze zurückkehrten..."

Nora Becker Alvarez, The Bremen Space Musicians landen als Außerirdische auf dem Planet Bremen (2003). 

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Königstein

Karlsruhe

Frankfurt

München

Havixbeck

Bremen

Wernigerode

Oleška

Jena

Berlin

Schwedt

Dresden

Schwarzkollm

Praha

Podersdorf am See

Bei diesem selbstständigen Projekt hatte ich gewisse Freiheit, die man bei einem kommerziellen Illustrationsauftrag nicht hat. Manche Bilder stellen die Szenen aus literarischen Werken präzise dar. Die anderen fügen etwas Neues hinzu und entwickeln die Geschichten weiter. Mein Hauptziel war, wirkliche Orte auf interessante und kreative Weisen abzubilden.

Das Projekt ist eine Übersetzungsübung zwischen Text und Bild. Zuallererst muss eine Illustratorin dafür sorgen, ein spannendes Bild zu erzeugen. Damit man diesen Zweck erreichen kann, soll man den Text kritisch betrachten und nicht buchstäblich den Text nachmachen.

Nehmen wir die Illustration zu “Krabat“ als Beispiel. Dieser von Märchen inspirierter Liederzyklus handelt von einem Jungen, der zu einem Lehrling des bösen Zauberers in einer abgeschiedenen Mühle wird. In dieser Illustration wollte ich nicht den Protagonisten, den Bösewicht, oder den zum Raben werdenden Mühlenburschen zeigen. Alle diese Bilder sind sehr bekannt und wurden schon von vielen großartigen KünstlerInnen dargestellt. Stattdessen fragte ich mich, wie wäre es, wenn die Mühle selbst ein lebendes Wesen wäre und Eigenschafften von den anderen Figuren vereinte?

Ein Bild von einem grinsenden Türgriff wäre eine präzise Illustration zu E. T. A. Hoffmanns Roman Der Goldne Topf, aber ein eindrucksvolles Bild in sich selbst wäre sie nicht. Der Autor beschäftigt sich nämlich nicht mit dem Türgriff, sondern mit dem Gemütszustand des zerstreuten Studenten, der verrückt wird, weil seine Umgebung sich in etwas Schreckhaftes und Ungewöhnliches verwandelt. Ich wollte das in vollem Umfang zeigen. Ich malte es, wie viele verschiedenen Elemente der Stadt, die heutzutage zu sehen sind, lebendig und drohend werden, um den Protagonisten zu überwältigen. Obwohl diese Illustration keiner bestimmten Stelle aus dem Text entspricht, bleibt sie dem Text treu.

Es gibt aber Fälle, in denen ein buchstäblicher Umgang mit dem Text trotzdem eine gute Illustration erbringen kann. Das ist bei Gedichten oft der Fall, denn Gedichte stellen oftmals viel interessantes Bildmaterial zur Verfügung. In dem Gedichtzyklus “Rückkehr nach Frankfurt” werden Sonnenblicke auf der Oberfläche des Mains mit Flecken auf einem Kleid verglichen. Ich ging damit noch einen Schritt weiter. Wenn der Fluss ein Kleid trägt, dann kann er gar zu einer Person werden. Die Stadt wird als Mensch dargestellt, und die Zerstörung der Gebäude entspricht körperlichen Wunden.

Die Kurzprosa von Mahesh Mortiramani bietet eine Vielzahl von wunderlichen Bildern an. Am liebsten spielt der Autor mit Gebäuden. In seinem Werk können die Gebäude herumlaufen, mit Menschen sprechen, wie Raketen fliegen, wie Schiffe segeln. In diesem Fall wollte ich nicht eine bestimmte Stelle illustrieren, sondern dieselbe ästhetische Wirkung zu erzielen. Deswegen spielte ich mit dem Neuen Rathaus in München und mit Skulpturen daneben in ähnlicher Weise.

Sekundärliteratur war eine wichtige Quelle der Inspiration bei diesem Projekt. Sara Luly schreibt in ihrem Aufsatz “Polite Hauntings: Same-Sex Eroticism in Sophie Albrecht’s Das höfliche Gespenst“ (Höfliches Spuken: Gleichgeschlechtige Erotik in Sophie Albrechts Das höfliche Gespenst), dass die Autorin „Kennzeichen des gotischen Romans benutzt, um die Queer-Identität und gleichgeschlechtliche sexuelle Anziehung zwischen Frauen zu untersuchen“. Als künstlerisches Medium, das von Text unterschiedlich ist, bot Illustration mir die Möglichkeit an, diese Interpretation ins Bild einzuziehen als auch eine getreue visuelle Begleitung zu dem Text zu erstellen. Der Aufsatz “Defining Identity via Homosexual Spaces: Locating the Male Homosexual in Weimar Berlin” (Festlegung der Identität durch homosexuelle Räume: Ortung des männlichen Homosexuellen in Weimarer Berlin) von David James Pickett gab mir die Idee, statt einer buchstäblichen Darstellung einer Szene aus Männer zu verkaufen ein Bild zu malen, wo die verschiedenen Teile der Stadt den verschiedenen Körperteilen entsprechen, wie ein Mensch zu einer Stadt wird.

Der wichtigste Aspekt meines Projekts ist der persönliche Besuch an den Orten, wo die ausgewählten literarischen Werke stattfanden. Dieses Unternehmen war mit mehreren Herausforderungen und Möglichkeiten verbunden. Die meisten Geschichten gaben genaue Orte an. Bei den anderen war eine weitere Recherche nötig. „Der Blonde Eckbert“ findet „in der Gegend des Harzes“ statt. Ich musste viele Schlösser recherchieren, um den idealen Standort für meine Illustration zu finden. Es konnte nicht ein Schloss aus Ludwig Tiecks Zeiten sein, denn die Geschichte ist ein Märchen und sollte in alten Zeiten stattgefunden hatten. Eine Burgruine hätte auch nicht gepasst, denn das Schloss sollte für den Protagonist ein derzeitiges Zuhause sein. Deswegen wählte ich das Schloss Wernigerode aus.

Obwohl ich jeden Ort vor der Anreise gründlich untersuchte, und in den meisten Fällen eine ungefähre Idee der Illustration hatte, war es unmöglich, genau zu wissen, was ich vor Ort finden werde. In Frankfurt stieß ich auf das Historische Museum. Dort gab es Ausstellungen, wie die Stadt in der Vergangenheit, in verschiedenen Zeitaltern und gleich nach dem 2. Weltkrieg aussah, und diese Information nutzte ich in meiner Illustration. Mein Besuch in Berlin fiel mit einem Wochenendmarkt zusammen. In „Drei Straßen“ malt Yoko Tawada ein idyllisches Bild von einer wohlhabenden Nachbarschaft mit vielen jungen Familien. Der Markt ließ mich das lebhafter als die Protagonistin erleben.

Während meines Besuches der „Teufelsmühle“ in Schwarzkollm begegnete ich vielen interessanten alltäglichen Gegenständen, wie Kleider, Werkzeuge, und Elemente der Innenausstattung. Viele davon nahm ich in die Illustration auf. Die Albtraum-Gesichter in der Illustration zu „Der Blonde Eckbert“ verweisen direkt auf die Innenausstattung von Schloss Wernigerode. Solche Kleinigkeiten, wie architektonische Elemente oder typische Pflanzen an einem Ort, spielen eine wichtige Rolle. Sie verstärken das Gefühl, dass der Ort auf dem Bild in der Wirklichkeit existiert, und keine grobe Annäherung mithilfe Google-Images ist. Fotografie war an manchen Orten verboten. Das war aber kein Problem für mich, da ich das, was ich brauchte, einfach skizzieren konnte.

Die Illustration zu „Beschreibung eines Kampfes“ enthält Anspielungen auf ein Kunstprojekt, das „Signal“ heißt. In Rahmen dieses Projektes werden verschiedene surreale visuelle Effekte auf historische Gebäude projiziert. Ich fand dieses Kunstprojekt dem Stil der Kurzgeschichte entsprechend. Durch solche Details bestimmt sich mein Projekt als „hier“ und „jetzt“, obwohl es literarische Werke aus verschiedenen Epochen umfasst, und sie mit der Gegenwart ins Gespräch bringt. Es war interessant zu sehen, was and diesen Orten noch vorhanden war, und was nicht mehr. Viele Wahrzeichen in Dresden, die Hoffmann in „Der Goldne Topf“ erwähnt, wurden durch den Krieg zerstört. Die Heidelandschaft spielt eine wichtige Rolle in Gedichten von Annette von Droste-Hülshoff, aber der große Teil davon wurde durch Landwirtschaft vernichtet. Wahrscheinlich werden auch die Orte in meinen Illustrationen Jahre und Jahrzehnte später nicht mehr erkennbar sein.

Durch persönliche Besuche konnte ich umfassende Information über jeden Ort sammeln. Wenn man einfach „Berlin“, „München“, oder „Frankfurt“ in Google sucht, ergibt das am besten eine Menge von Fotos von den berühmtesten Sehenswürdigkeiten in diesen Städten. Das ist nicht genug, um eine nachdenkliche und einzigartige Illustration zu erzeugen. Es ist unmöglich, ein Gefühl für den Ort zu bekommen und festzustellen, was den Ort wirklich kennzeichnet.

E. T. A. Hoffmanns Kurgeschichte „Der Sandmann“ (1816) gilt als klassisches Beispiel des Unheimlichen in der Literatur. Ich wollte die anderen literarischen Werke aus verschiedenen Epochen jenseits der Romantik finden, wo dieses Phänomen vorkommt. Ich ging mit dem Unheimlichen in einem breiteren Sinn um, und begrenzte mich nicht auf buchstäbliche Geistergeschichten. Die wichtigste Voraussetzung war, dass das Unheimliche etwas mit dem bestimmten Ort zu tun habe. Es wäre unmöglich, jedes halbwegs treffende literarische Stück aus den letzten 200 Jahren zu analysieren, und deswegen behaupte ich nicht, dass diese die absolut besten Beispiele für das Thema sind. Aber ich bin überzeugt, dass jede Geschichte und jede Illustration in der Reihe das Unheimliche auf interessante Weise darstellt und verschiedene Themen behandelt.

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